Kinder können schon manchmal eine Plage sein. In jedem Alter verstehen sie es gar vorzüglich, den Magenwänden der Eltern ein paar weitere Beschleunigungslöcher zu bescheren. Doch egal ob Jeremy-Pascal Nachbars Lumpi durchs Treppenhaus gekickt oder Jaqueline-Shayenne ein paar Reißzwecken an taktisch wichtigen Punkten vor dem Kühlschrank drapiert hat, im Grunde lieben die meisten ihre Kinder. Ausnahmen bestätigen die Jugendämter. Vorzeige-Folterknecht und Martyrs-Regisseur Pascal Laugier hat letztes Mal die Haut genommen, dieses Mal nimmt er den Eltern ihre kleinen Hobbyterroristen. Kann er mit seinem Werk erneut beeindrucken?
Cold Rock ist ein abgelegenes und heruntergekommenes Städtchen, in dem man nicht mal seine Schwiegermutter verscharren möchte. Seitdem die dortige Mine geschlossen wurde, ist die Arbeitslosigkeit stark angestiegen und die Einwohner werden immer verzweifelter. Doch nicht nur mangelnde Kohle und eine schäbige Zukunft macht den Menschen das Leben so schwer. Abgesehen davon, dass eigentlich jeder mit dem Existenzminimum rangelt, geht das Gerücht um, dass ein großer Mann umher streift und immer mal wieder Kinder einkassiert, die daraufhin weg vom Fenster sind. Natürlich glaubt nicht jeder an diesen törichten Schabernack, Fakt ist aber, dass Kinder auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind und es kein Ende nimmt.
In diesem Rattenloch von Stadt lebt die Krankenschwester Julia. Seit ihr Mann, ein hoch angesehener Arzt, vor kurzem den Löffel weiter reichte, steht sie in seinem Schatten und hat bei den Hillbilly-Rednecks einen sehr schweren Stand. Dennoch versucht sie zu helfen so gut sie kann. Eines Nachts steigt aber ein unbekannter in ihr Domizil ein und verbeult ihrer Mitbewohnerin die Visage. Des Weiteren greift er noch den kleinen 5-jährigen David an und macht sich mit ihm vom Acker. Julia verfolgt die beiden, muss aber einen Autounfall und zwei Hundeangriffe später die Hatz abbrechen. War das der Große Mann? Existiert er wirklich und raubt Kinder, um sie auf dem arabischen Basar gegen Ziegen und Hühner einzutauschen?
Laugier zeichnet von Anfang an ein bedrückendes Bild einer fast schon gescheiterten Gesellschaft. Extrem hohe Arbeits- und Perspektivlosigkeit halten Cold Rock fest im Griff. The Tall Man beginnt sehr gemächlich, baut aber gleich zu Beginn eine sehr bedrückende Atmosphäre auf, die klar macht: In Cold Rock will man nicht leben. Lethargische und verarmte Menschen, familiäre Probleme, Vorurteile und häusliche Gewalt stehen an der Tagesordnung. Funktioniert diese Einführung noch ganz gut, verliert der Film ab der zweiten Hälfte viel von seinem mystischen Einstieg. Der Plot Twist folgt viel zu früh und büßt dadurch viel von seiner Effektivität ein. Danach ist der Streifen zwar immer noch irgendwie beklemmend, aber viel zu voraussehbar. Ganz im Stile von 80er-Agentenfilmen wird eigentlich die komplette Geschichte mitsamt Wendung und Zuckerguss in einem Monolog runtergebetet, sodass man sich bloß nicht zu viel Kopfzerbrechen bereitet. Natürlich werden nicht alle Fragen auf einmal geklärt, aber in der zweiten Hälfte kann man sich den größten Teil bereits weit vor Schluss zusammenreimen, sodass The Tall Man kaum noch Überraschungen bereit hält. Laugier hätte hier auf jeden Fall noch warten und das Mysterium um den "Großen Mann" weiter ausbauen müssen, bevor er seine lapidare Erklärung einfach lieblos hinklatscht. Martyrs funktioniert zwar ähnlich, hatte aber den Bonus der magenquetschenden Darstellung von steriler, zielgerichteter Gewalt. Hier fehlt beides, denn nach dem Twist rückt der Mythos "Großer Mann" in weite Ferne.
Der Film wird dadurch nicht unbedingt schlecht, es bleibt immer noch die aufgebaute Atmosphäre, wenn auch weniger bedrohlich, was aber zum allergrößten Teil an der herausragenden Performance von Jessica Biel liegt. Sie trägt den Film fast im Alleingang und ist nach der Enthüllung der Hauptgrund, neben einigen wenigen ungeklärten Fragen, dass man trotzdem noch dran bleiben kann ohne gelangweilt den Fernseher anzuschnarchen. Der restliche Cast macht seine Sache auch ganz passabel, verblassen aber angesichts der Leistung von Frau Biel. Auch das Drehbuch gewinnt hier. Das Tempo ist, abgesehen von der recht kurzen aber gut inszenierten Verfolgungsjagd, sehr gemächlich, was dem Film aber überhaupt nicht schadet, da es ganz gut die Selbstaufgabe der Bevölkerung von Cold Rock widerspiegelt. Jedoch hätte der titelgebende Kinderdieb viel stärker thematisiert werden müssen, gerade zu Anfang, um aus ihm eine wirklich zu fürchtende Bedrohung zu kreieren.
Technisch gibt sich The Tall Man keine Blöße. Das Bild besticht durch seine farbreduzierte und scharfe Darstellung und vermittelt rauschfrei und klar einen ausgezeichneten Eindruck eines Ortes, an dem man nicht sein will. Auch die dazugehörige Tonuntermalung ist stimmig. Mal bedrohlich, mal ruhig, nie übertrieben oder aufgesetzt, aber immer sauber abgemischt. Die Synchronisierung ist auch sehr gut gelungen.
Cover & Bilder © Universum Film GmbH
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